Kempff, Martina by Die Gabe der Zeichnerin

Kempff, Martina by Die Gabe der Zeichnerin

Autor:Die Gabe der Zeichnerin
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


kapitel 9

der sturz

Dein Bild entschwindet nie, nicht eine einz’ge Stunde;

Im Herzen wies ich ihm den Platz der Ehre zu.

Hofft ich auf Heimkehr nicht, ich wäre bald gestorben;

Wär nicht das Bild im Traum, ich fände keine Ruh.

Aus 1001 Nacht (die 798. Nacht)

aachen, frühjahr 797

Die Katastrophe kündigte sich an. Doch das leise Ächzen des Lehrgerüsts, das ein hohes Gewölbe über einem Quadrat im westlichen Obergeschoss stützte, ging im allgemeinen Lärm auf der Baustelle unter, im Hämmern, Sägen, Steineklopfen, im Stimmengewirr und Quietschen der Winden. Erst das sehr vernehmliche Knarren von Balken ließ einige Arbeiter aufhorchen. Sie sahen sich erschrocken an. Es knackte bereits gehörig laut, als sie aus der Nähe des Gerüsts flüchteten, das wenige Augenblicke später in sich zusammenstürzte. Balkenteile donnerten über das Gesims hinaus und kamen zu einem krachenden Halt auf dem Boden des Oktogons. Hilfeschreie ertönten. Ein Steinsetzer war bei seiner Flucht auf dem oberen Umgang von einem Balken getroffen worden. Er war verletzt oder eingeklemmt, so genau konnte das Lucas von seiner Warte auf der gegenüberliegenden Seite nicht erkennen. Er rannte los, um dem Mann zu helfen. Jemand stellte ihm ein Bein. Er stürzte.

»Nicht!«, schrie Iosefos.

Lucas erhob sich, aber es gelang ihm nicht sofort, sich aus dem eisernen Griff des einen gesunden Arms zu befreien.

»Bleib«, zischte der alte Baumeister. »Gleich kommt alles hernieder.«

Der erste Stein hatte sich bereits aus dem Gewölbe gelöst und war herabgestürzt. Lucas riss sich von Iosefos los. Er rannte über den Umgang durch die Folge der winklig gestellten Bogentore weiter, während Travertinsteine aus der Gewölbedecke auf das Viereck vor ihm hinabprasselten. Der eingeklemmte oder verletzte Arbeiter brüllte noch immer. Lucas rannte.

»Nein, Lucas!«, schrie Ezra aus dem Erdgeschoss des Oktogons. Der Schrei des ansonsten stets stummen Architectulus ging allerdings in großem Gedonner unter und wurde von niemandem beachtet. Ezra schlug sich die Hand vor den Mund! Lucas blieb unvermittelt stehen. Das gesamte Gewölbe stürzte ein und begrub den Steinsetzer unter sich. Dann herrschte Totenstille auf der Baustelle.

Der furchtbare Unfall warf die Arbeit um Wochen zurück. Ein Omen des Unheils, sagte Odo vorwurfsvoll zu Iosefos im Inneren des Oktogons. Der fränkische Baumeister deutete in die lichte Höhe, die dereinst geschlossen werden sollte und über der gerade ein Raubvogel seine Kreise flog. »Wie sollen wir die Kuppel in solcher Höhe stützen, wenn uns schon ein so viel kleineres Lehrgerüst einbricht, das erheblich weniger Lasten aufnehmen muss?«

»Schlechte Zimmerleute«, knurrte Iosefos.

Odo nickte. »Du hast recht«, sagte er. »Aber das ist nicht unsere Schuld.«

Wir, dachte Iosefos, unsere. So weit ist es jetzt schon gekommen, dass sich dieser Mensch mit mir verbündet. Es reicht, dass sein Sohn ständig um meine Tochter herumstreicht, von der er zum Glück nicht weiß, dass es eine Tochter ist.

Und damit hatte Iosefos durchaus recht: Lucas hatte keinesfalls die Frau in Ezra erkannt, als er ihr vor der Hütte des Schmiedes das Haar aus der Stirn gestrichen hatte. Zu seiner Bemerkung hatte ihn nur die Gewissheit verleitet, dass sich die edle Xenia ohne ihre Kammerfrau sicherlich nicht auf den Weg nach Mercien gemacht hätte.

»Unsere besten Zimmerleute hat der König auf seinen neuen Sachsenfeldzug mitgenommen«, fuhr Odo fort.



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